An unsere amerikanischen Freunde
- Marc Baumann
- 20. Apr.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 3 Tagen

Liebe amerikanische Freunde
Ich war etwa drei Jahre alt und mit meinen Eltern zu Besuch bei meinen Grosseltern am Zürichsee. Plötzlich war meine Familie in heller Aufregung, weil ich verschwunden war. Glücklicherweise fanden sie mich nach kurzer Suche am Steg des Dampfschiffs, wo ich ihnen erklärte, dass ich mit dem Schiff nach Amerika wollte. Euer Land übte offensichtlich schon früh eine starke Anziehungskraft auf mich aus, die mein ganzes Leben lang nicht nachgelassen hat. Es war das Versprechen von Abenteuer, Freiheit, Grösse, beeindruckenden Landschaften und einem Schmelztiegel von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensweisen. Mit 24 Jahren zum ersten Mal und später noch viele Male habe ich die USA besucht und selbst erlebt, was euer Land zu bieten hat. Die Freundschaft, die unsere Kontinente seit langem verbindet, ist mir zu eigen geworden.
Doch was ist passiert, dass unser Freundschaftsbund über Nacht in Frage gestellt werden konnte? Diese Frage ist für uns aktueller denn je. Es vergeht kein Nachtessen, kein Treffen mit Freunden und nicht einmal ein Hundespaziergang, ohne dass das Gespräch auf unsere Beziehung kommt. Ich lebe mit meiner Familie in der Schweiz, im Herzen Europas. Es ist ein kleines Land, in dem die meisten Menschen ein gutes Leben in Frieden und Sicherheit führen können. Dafür sind wir unendlich dankbar, denn in der Geschichte Europas war das schon einmal anders.
Bisher haben wir uns gemeinhin als den «Westen» verstanden. Viele meinen damit vor allem die Kontinente Amerika und Europa. Dahinter steht eine gemeinsame Wertebasis, die «westliche Kultur», aufgebaut auf langen Traditionen. Sie steht für Demokratie, Innovation und breit abgestützte Wertvorstellungen. Wir Europäerinnen und Europäer fühlen uns von euch hoch wertgeschätzt, was ihr in der Vergangenheit durch enorme Engagements wiederholt bewiesen habt, angefangen im frühen 20. Jahrhundert. Im April 1917 haben sich fast zwei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner an die Seite der Alliierten gestellt und geholfen, den Wahnsinn und die sinnlose Schlachterei zu beenden. Mehr als 117 000 Menschen brachten das grösstmögliche Opfer, das ein junges Leben für seine Nation bringen kann. Ich habe mit meinen Kindern amerikanische Soldatenfriedhöfe aus dieser Zeit in Nordfrankreich besucht und war tief beeindruckt, wie das Andenken an die gefallenen Soldaten und die Dankbarkeit für ihr Opfer noch heute mit grösster Sorgfalt gepflegt und erhalten wird.
Offenbar haben wir in Europa nicht viel aus dieser Erfahrung gelernt. Nicht lange nach dem ersten Weltkrieg kamen in vielen Ländern Europas Faschisten und Diktatoren an die Macht, so auch in Deutschland. 1939 riss Hitler-Deutschland die Welt erneut in tiefe Dunkelheit.
Wie wir in der Schweiz, verstandet auch ihr euch als neutrale Nation und wolltet auf keinen Fall in einen fremden Krieg hineingezogen werden. Präsident Franklin D. Roosevelt, einer der bedeutendsten Politiker des 20. Jahrhunderts, verteidigte die Neutralität der USA vehement. Er wusste aber auch, dass der Frieden im eigenen Land nicht sicher war, wenn Europas Haus in Flammen stand und begann so mit der Unterstützung der europäischen Länder im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Um die Neutralität nicht zu verletzen, hatte er dazu das Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease-Act [1]) eingebracht – ein sehr kreative Antwort auf die strenge Neutralitätsauslegung. Dann, im Dezember des gleichen Jahres 1941 griffen japanische Flugzeuge Pearl Harbor an und zwangen euer Land in den Krieg.
Ihr habt nicht nur euer Land verteidigt, sondern ihr kamt uns erneut zu Hilfe, dieses Mal mit fast acht Millionen Soldatinnen und Soldaten. 1,1 Millionen liessen ihr Leben auf unseren Schlachtfeldern. Doch ohne euch hätten der Faschismus und die entsetzlichen Gräuel in Europa nicht besiegt und beseitigt werden können.
Roosevelt hat in diesen Kriegszeiten gelernt, dass enger Nationalismus nicht vor Problemen schützt und die Länder in einer globalen Abhängigkeit stünden und sprach von einer Welt (One World). In seiner Ansprache vom 20. Januar 1945 sagte er unter anderem: «Wir haben gelernt, dass wir nicht allein in Frieden leben können, sondern dass unser eigenes Wohlergehen vom Wohlergehen anderer Nationen abhängt – weit entfernten Nationen. Wir haben gelernt, Bürger der Welt zu sein, Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft. Wir haben die einfache Wahrheit Emersons [2] gelernt, dass der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist einer zu sein‘.» [3]
Der britische Premierminister Winston Churchill hatte im Krieg ebenfalls schmerzlich erfahren, wie wichtig gute Freunde waren. «Hätte nicht die grosse Republik jenseits des Atlantischen Ozeans schliesslich begriffen, dass der Untergang oder die Versklavung Europas auch ebenso ihr eigenes Schicksal bestimmen würde, und hätte sie nicht ihre Hand zu Beistand und Führung ausgestreckt, so wäre das finstere Mittelalter mit seiner Grausamkeit und seinem Elend zurückgekehrt.» [4]
Liebe amerikanische Freunde. Ihr habt diese ausserordentliche Bekenntnis auch nach dem Tod von Präsident Roosevelt weitergelebt und gezeigt, wie wir das verstehen sollen. Ihr seid nicht als Rächer im besiegten Deutschland aufgetreten und habt euch nicht einfach bedient. Nein, ihr habt alles dafür getan, dass die Ordnung wieder hergestellt werden konnte. Damit haben die Menschen im Land, trotz der grossen Schuld, die sie auf sich geladen hatten, eine Perspektive erhalten. Und mit dem Marshallplan habt ihr allen Staaten in Europa ermöglicht, wieder Fuss zu fassen. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies in eine der fruchtbarsten Perioden unserer Geschichte mündete. Es war richtig, dass George Marshall, stellvertretend für die ganze amerikanische Nation, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Aus dem zweiten Weltkrieg tauchte der kalte Krieg auf, der sich wie ein eisiger Schatten über eine ganze Generation legte. Ein möglicher Nuklearkrieg stand im Raum – die komplette Zerstörung des Lebens auf unserer Erde. In dieser Zeit bildeten wir zusammen die starke Einheit der freien Staaten. Das westliche Modell der Demokratie und Freiheit war für viele von uns der schützender Leuchtturm in einer Welt voller Konflikte, auch wenn wir heute wissen, dass nicht alles Gold war, was glänzte. Europa war bedroht und wieder war es ein amerikanischer Präsident, der den Beistand der Vereinigten Staaten nicht stärker hätte bezeugen können, nämlich John F. Kennedy: «Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können ‚Ich bin ein Berliner‘!» [6].
Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, waren wir zusammen überzeugt, dass der Weg für liberale Demokratien frei sei und autoritäre Systeme keine Zukunft hätten. Es gab zwar immer noch Probleme zu lösen, aber unsere Haltung stimmte und so begannen wir Hand in Hand an der Lösung globaler Aufgaben – es war ein Aufbruch in bessere Zeiten. Leider haben wir in der Zwischenzeit hinnehmen müssen, dass die Euphorie nicht lange angehalten hat und viele Fragen heute drängender geworden sind und erst recht gemeinsam gelöst werden müssen.
Liebe US-Amerikanerinnen und Amerikaner. Ihr habt so viel für Europa getan und uns oft aus der Patsche geholfen. Wo wären wir ohne eure Hilfe zur rechten Zeit. Ich hoffe, ihr wisst, dass wir das alles sehr würdigen und hoch wertschätzen. Ihr standet bisher immer fest an unserer Seite. So sehr, dass wir glaubten, die eigene Verteidigungskraft vernachlässigen zu können und euch unsere Sicherheit zu überlassen. Das war ein Fehler und angesichts eurer Leistungen für uns nicht in Ordnung. Ich denke, wir haben das verstanden und werden es ändern. Wir sollten es jedoch nicht allein ändern, sondern zusammen mit euch und allen demokratischen Staaten der Welt.
«Wir haben gelernt, Bürger der Welt zu sein, Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft.» Roosevelts Worte von 1945 haben heute mehr Bedeutung denn je. Wie können die einzelnen Staaten die drängendsten Probleme allein und für sich selbst lösen: den Klimawandel, den Verlust der Biodiversität, die Übernutzung der natürlichen Ressourcen, die weltweite Fluchtmigration, die geopolitischen Spannungen, die weltweite soziale Ungleichheit und über allem, den Erhalt unserer Demokratien? Ist es nicht von allergrösster Wichtigkeit, dass wir uns zusammentun, dass wir miteinander aufbrechen? Darf ich erneut an Präsident Roosevelt erinnern, der während des Krieges massgeblich die Gründung der Vereinten Nationen im April 1945 vorantrieb?
Amerika, insbesondere die USA üben von jeher eine grosse Faszination auf uns auf. Über all die vielen und grossartigen Filme, über die Musik und die Literatur erhalten wir in Europa einen tiefen Einblick in euren Alltag, in eure Sorgen und eure Vorstellungen von Glück und Freiheit. Und vieles haben wir uns zu eigen gemacht, zum Beispiel eure offene, unverfälschte Freude über gemeinsames Glück, über Erfolge und über grosse Momente im Leben. Ich war 24, als ich 1981 mit einem Freund zum ersten Mal in die USA reiste und das Land kennenlernte. Wir waren in New York, in Miami, flogen nach Chicago und dann nach Kalifornien. Ein Jahr hatten wir dafür gearbeitet und gespart, und wir erlebten wunderbare Wochen in eurem Land und hatten eine besondere Begegnung.
In einem Restaurant in Chicago lernten wir einen Mann kennen, der auf unser Schweizerdeutsch aufmerksam geworden war. Er verstehe zwar nicht, was wir sagten, es klinge aber nach Schweizerdeutsch – der Muttersprache seines Urgrossvaters. So kamen wir ins Gespräch und er erzählte uns, dass er mit seiner Familie in Los Angeles lebe und hier auf Stellenbewerbung sei. Das sind 2000 Meilen Weg für eine Stellenbewerbung! Für viele in Europa unvorstellbar – in den USA selbstverständlich. Es war ein kurzes Gespräch und wir erzählten ihm, dass wir heute noch nach Los Angeles fliegen würden. Wir dachten, er gehe auf die Toilette, als er uns kurz verliess. Die Nachricht, mit der er zurückkam, war dann allerdings verblüffend. Er hatte seine Frau angerufen; und sie gebeten uns am Flughafen in L.A. abzuholen. Wir sollten ein paar Tage bei ihnen wohnen als ihre Gäste. Diese Offenheit, diese Gastfreundschaft, die Herzlichkeit hat uns überrascht und begeistert.
Ich habe die USA in meinem Leben immer wieder besucht, mit Freunden und vor allem mit meiner Familie. Wir sind mit dem Auto durchs Land gefahren und haben unendlich viele Kilometer hinter uns gebracht. Dabei wiederholten wir die Erfahrungen, die ich als junger Mann gemacht hatte. Ihr Amerikaner/innen begegneten uns mit überwältigender Freundlichkeit und Offenheit – als wären wir jahrelange Freunde.
2004 lief ich in New York den einzigen Marathon in meinem Leben, mit einer Zeit von 4:54. Ja, ich weiss, das ist nicht eine besondere Zeit, in New York jedoch überhaupt nicht wichtig. Die Menschen in New York zeigten ihre Begeisterung der Menschen für alle, die teilnahmen. Hundertausende feuerten uns an.
Das war erst kurz nach 9/11, einem einschneidenden Erlebnis für die ganze Welt. Ich weiss noch heute, wo ich zu diesem Zeitpunkt gerade war, wie viele andere Menschen auch. Und wie mich dieses Ereignis masslos schockierte. Während Tagen war ich mit allen meinen Gedanken ausschliesslich bei euch und trauerte mit euch um die vielen Opfer. Ihr habt diesen Schicksalsschlag überwunden und euch wieder erholt. Und wie auf den Friedhöfen im Norden Frankreichs habt ihr die Opfer nicht vergessen. Im Sommer 2019 habe ich mit meiner Familie das 9/11-Memorial besucht. Die Sorgfalt und die bewegende Schönheit des Ortes haben mich tief berührt. Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie eine Nation mit Krisen umgehen kann.
Liebe amerikanische Freunde. Ich durfte so viele schöne Momente bei und mit euch verbringen. Ihr wart und seid weiterhin und immer herzlich willkommen in unserem Land. Warum lassen wir düstere Wolken über unserer Freundschaft aufziehen?
In einer Beziehung können manchmal ungewollt Ungerechtigkeiten entstehen, es kann Missverständnisse geben oder wir reagieren ungewollt heftig aufeinander. Das muss nicht unbedingt schaden, so wie disharmonische Töne einer perfekten Harmonie zusätzliche Tiefe geben können. Gefährlich wird es, wenn wir es dann nicht schaffen, aus der negativen Spirale herauszutreten, wenn wir den Konflikt weiter schüren, statt ihn zu entspannen. Einer muss nachgeben und auch einmal über den eigenen Schatten springen – denn für Frieden und Freundschaft lohnt sich jeder Aufwand - immer.
Unsere Welt ist nicht in Ordnung. Sie ist seit 1991 auch nicht besser geworden. Wir haben die Aufgaben von damals nicht gelöst und neue Problemfelder hinzugefügt. Ich bin Vater von vier Kindern und Grossvater von bald vier Enkeln und in echter Sorge, wenn ich an die Zukunft meiner Kinder und Enkel denke. Ich bin sicher, dass es vielen unter euch ebenso geht. Wir leben im Moment zwar in der besten aller Welten, aber es gibt dunkle Wolken am Himmel. Ein Gewitter zieht auf, das zu einem vernichtenden Sturm werden könnte. In schweren Stürmen ist es wichtig, dass alle in der Lage sind, ihre vollen Kräfte zum Schutz der Gemeinschaft einzusetzen.
Die durch eure Regierungsbeschlüsse bei uns ausgelösten Unsicherheiten haben womöglich auch etwas Gutes an sich. Der deutsche Philosoph Richard David Precht hat in einem Gespräch kürzlich gesagt, dass wir Europäer wirkten, wie junge Erwachsene, die von ihren Eltern vor die Tür gestellt würden und noch nicht wüssten, was sie nun tun sollten. Wir sind damit konfrontiert, selbst für unsere Sicherheit und unsere Rolle in der Welt besorgt zu sein. Wir stehen an einem Neubeginn und ich hoffe, dass wir es schaffen, eine starke geeinte Kraft zu werden und unseren Beitrag an die anstehenden grossen Aufgaben leisten können. Denn wir fühlen uns der gemeinsamen Verantwortung und Freundschaft verpflichtet.
Lasst uns an die Idee von Franklin Roosevelt anknüpfen und miteinander an der Zukunft der Welt arbeiten – Seite an Seite, mit allen anderen Menschen auf dieser Erde. Es wird nicht immer leicht werden, aber wir bringen alle viele gute Voraussetzungen mit und wir zählen auf euren leidenschaftlichen Optimismus, euren ansteckenden Enthusiasmus und werden uns mit der gleichen Hingabe der Lösung unserer globalen Probleme widmen.
Liebe amerikanische Freunde. Lasst uns zusammenstehen. Lasst uns gemeinsam verhindern, dass unnötige Auseinandersetzungen unsere Beziehung in Frage stellen. Fordern wir unsere Regierungen auf, dass sie unseren Freundschaftsbund auch auf Regierungsebene pflegen, erneuern und bekräftigen. Denn geeint sind wir besser gewappnet für die Fragen der Zukunft als allein.
Herzliche Grüsse von einem Freund aus Europa.
Download PDF:
Lend-Lease-Act / Act to Promote the Defense of the United States, Nr. 1776, 18. Februar 1941 [zurück]
Ralph Waldo Emerson, US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller, 1803-1882 [zurück]
Fourth Inaugural Address of Franklin D. Roosevelt, 20. Januar 1945 [zurück]
Winston Churchill, Europa-Rede an der Universität Zürich, 19. September 1946 [zurück]
US-Aussenminister George C. Marshall schlug das «European Recovery Programm», ein bedeutendes Wirtschaftsförderungsprogramm für Europa vor. Von 1948 bis 1952 wurden Hilfen im Wert von 13,1 Mrd. USD an die europäischen Staaten geleistet. [zurück]
Aus der Rede von John F. Kennedy am 26. Juni 1963 in West-Berlin: «All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and, therefore, as a free man, I take pride in the words ‘Ich bin ein Berliner!’» [zurück]